Mütterliche Erziehung ohne Mutter

Ein Vortrag von Admir Ljescanin in Ohrid, Herbst 2005 zusammengefasst von Arno Heider

Können Säuglinge und Kleinkinder, die in einer Institution leben, seelisch gesund bleiben oder seelisch genesen, bis sie in geordnete Familienverhältnisse kommen?

Wenn wir Kinder in Centar Duga (Haus Regenbogen) in Kulen Vakuf bei Bihac sehen, dann wissen wir, dass ihnen etwas fehlt: die ständige Umsorgung und Geborgenheit einer Familie. Sie genießen dort aber andererseits Vorteile, die ihnen später im Leben zu Gute kommen.

Noch immer gibt es im ehemaligen Jugoslawien Heime, in denen die Babys und Kleinkinder unter schwerer Vernachlässigung leiden. In denen das Personal so handelt, als seien die schweren Schäden, die durch Vernachlässigung entstehen, nicht bekannt.

Was macht die Schäden aus, und wie vermeidet sie Centar Duga?

In herkömmlichen Heimen gibt es meist nur Personal, das sich um alles kümmern muss: es ist für die Kinder verantwortlich, für praktische Organisation, für Verwaltung. Manchmal müssen die Pflegerinnen für abwesende Kolleginnen einspringen.

In Centar Duga gibt es für bosnische Verhältnisse den absoluten Luxus. Die Führung von Centar Duga erfordert aber genau durchdachte und komplexe Mittel, wie die Führung eines Krankenhauses. Es lässt sich nicht ohne sorgfältig angelegte Dossiers auskommen, nicht ohne aufgezeichnete Beobachtungen, nicht ohne gemeinsame Überlegungen zum institutionellen Ablauf und nicht ohne die Bereitschaft, immer wieder zu fragen und zu suchen.

Vermeidung von Vernachlässigung und Stress:

In der Theorie sind die wichtigsten Faktoren der Vernachlässigung der Kinder in einer Institution bekannt: - Häufiger Wechsel des Lebensraumes und der Betreuerinnen, - unpersönliche Pflege, - fehlende Möglichkeit, eine strukturgebende, privilegierte Beziehung aufzubauen, - mangelnde Öffnung zur Außenwelt, - Eintönigkeit der Umgebung und - Armut an sozialen Kontakten.

In Centar Duga bemühen wir uns in Bezug auf das Personal Kontinuität zu schaffen. Jedes Kind hat so etwas wie zwei Bezugspersonen. Bisher gab es in Kulen Vakuf noch keine Kündigung wegen Überlastung oder unüberbrückbarer Probleme. Nur eine Hilfskraft quittierte den Dienst. Sie heiratete einen Mann aus Deutschland, den sie während unserer mittlerweile sechs-jährigen Arbeit im Kanton Una-Sana kennen- und lieben gelernt hatte.

Der ständige Wechsel von Personal würde die Kinder erneut mit dem Verlust von nahen Menschen konfrontieren, was ihnen besonders Angst macht und die Furcht vor dem Unbekannten und vor Fremden noch verstärken würde. Ohne Unterstützung kann ein Kind in diesem Alter nicht mit seiner Angst umgehen. Es flüchtet sich in psychische Mechanismen, die seine Persönlichkeitsentwicklung hemmen. Selbst bei einer Verlegung in eine größere Gruppe bemühen wir uns, den Kindern die Angst machenden Erfahrungen zu ersparen. Eine der bisherige Betreuerin "begleitet" das Kind in die nächste Gruppe. Das Kind wird bestimmte Kleidungsstücke oder Spielzeuge mitnehmen. Alle Reaktionen des Kindes werden akribisch festgehalten und in wöchentlichen Betreuerinnen-Besprechungen diskutiert. Die Übersichtlichkeit von Centar Duga (24 Pflegeplätze) gibt zudem ein Stück Geborgenheit. Das Haus ist nicht so groß, dass alles anders ist für die Kinder, wenn sie in eine "größere Gruppe" verlegt werden.

Das Kind ist kein Gegenstand

Wenn ein Kind durch viele Hände geht, werden seine spontanen Äußerungen nur gelegentlich wahrgenommen und gewürdigt. Dies macht es dem Kind unmöglich, seine Existenz und Persönlichkeit zu erleben. Später würde es zu dem Gefühl führen, keine richtige Existenz zu haben und als Mensch wertlos zu sein.

In "Centar Duga" lenken wir durch eine streng geordnete Pflege und auf die Beobachtung der Kinder verpflichtete Pflegerinnen die Aufmerksamkeit der Betreuerinnen auf die Kinder. Die Betreuerin erklärt dem Kind immer wieder, was passiert, was es mit ihm macht, was im Augenblick mit ihm geschieht und was danach kommt. Die Betreuerin andererseits wird aufmerksam auf das, was das Kind tut, was es empfindet und ausdrückt. Die Betreuerin wird gezwungen, auf die Äußerungen des Kindes zu reagieren und mit ihm zu sprechen. Das Kind wird in den Vordergrund gestellt und existiert damit für sich selbst und für die Betreuerin. Die "klinischen" Aufzeichnungen ermöglichen es der Betreuerin zudem, sich dieser Entwicklung bewusst zu werden und die Pflege entsprechend zu gestalten.

Privilegierte Beziehung

"Centar Duga" vermeidet bei den Kindern die Angst vor wiederkehrenden Verlassensängsten durch den Aufbau einer privilegierten Beziehung. Diese basiert auf der Kontinuität von zwei Betreuerinnen. Die privilegierte Beziehung entsteht vor allem während der Pflege, bei diesem intimen Zusammensein, das Kind und Betreuerin ganz zueinander finden lässt. Die Betreuerin reagiert auf das, was vom Kind kommt, mit Worten und Gesten und sagt ihm, wie gut das ist. Sie zeigt dem Kind Zuneigung und Aufmerksamkeit. Dieses Verhalten mag zwar bei ganz kleinen Kindern "aufgesetzt" wirken, doch es entwickelt sich zu einem Dialog, wenn die Kinder größer werden. Bei einem Wechsel in eine andere Gruppe erleichtert es den Kindern die einheitliche Umgangsweise der Betreuerinnen, den Wechsel besser zu bewältigen.

Psychomotorische und geistige Entwicklung

In "Centar Duga" überrascht die Qualität der Aufmerksamkeit, mit der sich die Kinder ihrer Aktivitäten widmen, obwohl sie die Betreuerinnen während des Spiels (vor allem bei den Kleinen) wegen ihrer Tätigkeit in der Pflege anderer Kinder so gut wie nicht stimulieren. Der Wert der Nichtintervention besteht darin, dass die Kinder die Freude erleben, selbst etwas zu tun und zu lernen. Auch wenn es auf den ersten Blick den Anschein hat, dass das spielende Kind vernachlässigt wird. Es gibt ihm mehr, als ihm nicht gegeben wird. Die Möglichkeit und Gewissheit des Kindes, die Betreuerin während der Pflege ganz für sich allein zu haben, ermöglicht bei den Kindern die Fähigkeit zu warten. Auf der anderen Seite kann sich die Betreuerin voll auf die Pflege einlassen ohne sich gespalten zu fühlen, wenn sie nicht unmittelbar auf die "Forderungen" reagiert, die andere Kinder aus der Krabbelstube an sie richten.

Armut an sozialen Kontakten

Die fehlende Öffnung zur Außenwelt und fehlende soziale Kontakte sind weitere Ursachen für die oft unzureichende Entwicklung von Kleinkindern, die in Heimen aufwachsen. In "Centar Duga" nehmen wir den Kindern den Schrecken vor der Umwelt. Dazu dient in erster Linie die Zugehörigkeit zu seiner sozialen Gruppe und die privilegierte Beziehung zu zwei Betreuerinnen. Die anderen Frauen, die im Haus arbeiten, Admir, die Ärztin, die Logopädin, Psychologin oder auch fremde Besucher verhelfen zu einer Vielfalt von Kontakten. Um jede Konfusion zu vermeiden, macht das Kind mit diesen unterschiedlichen Menschen ganz andere Erfahrungen, als mit seinen Betreuerinnen: Die Ärztin untersucht das Kind regelmäßig, Admir schaut vorbei, die Tochter von Heimleiterin Jasna kommt zum Spazieren gehen, die Köchin bringt das Essen. Die Kinder sind viel im Freien, haben Kontakte zur Bevölkerung im Dorf, gewöhnen sich an das Autofahren bei Ausflügen. Die Toleranz der Kinder untereinander resultiert aus der ihnen Sicherheit gebenden Beziehung zu ihrer Betreuerin. Die Kinder in "Centar Duga" rivalisieren kaum um die Betreuerin, die sie bei der Pflege ausreichend für sich haben. Sie spielen nebeneinander, wobei es zu Begegnungen kommen kann oder nicht.

Ersatz für eine Mutterbeziehung?

Kann man pflegebefohlenen Kindern Liebkosungen und Zärtlichkeit auf Befehl schenken? In "Centar Duga" ist das "bemuttern" der Kinder etwas anderes. Alles, was Abhängigkeit fördert, wird bewusst ausgeschlossen. Dies dient dem Schutz der Betreuerinnen und dem Schutz der Kinder. Würde eine Betreuerin sich "hemmungslos" auf ein Kind einlassen, und das von ihr geliebte Kind verlässt das Haus, stünde die Betreuerin durch den Verlust für die anderen Kinder eine gewisse Zeit nicht zur Verfügung (Trauer/Aggression) Betreuerinnen in "Centar Duga" dürfen ihren Muttergefühlen nicht freien Lauf lassen (Supervision). Wir wissen, dass sich die Persönlichkeit eines Kindes in der Beziehung zu seinen Eltern heraus bildet. "Centar Duga" versucht deshalb die Gratwanderung.

Durch die Gleichmäßigkeit/Ähnlichkeit der Betreuung wird das Kind seine Betreuerinnen nicht in gut oder böse einteilen. Es erfährt durch die Reihenfolge der Pflege die Koexistenz von Gut und Böse. Die vorgeschriebene Arbeitsweise der Betreuerinnen (Behandlung) andererseits schränkt die Frauen in ihren mütterlichen Impulsen ein und schützt sie davor. Die rigorose Anwendung des Pflege-Musters macht die Betreuung zu einem ordnenden Faktor für das Kind.

Die Tonart des Umganges der Pflegerinnen mit den Kindern ist sanft und friedfertig. Allen Gefühlsausbrüchen der Kinder, ob sie Liebe, Wut oder Aggressivität bekunden, begegnen die Frauen mit verhaltenen Reaktionen. Das Kind spürt dadurch Aufmerksamkeit und kann sich geachtet und geschätzt fühlen.

Die Pflegerinnen ermuntern die Kinder, Freude in neuen Fertigkeiten zu üben, sich zu entfalten und neue Leistungen zu vollbringen. Dies geschieht manchmal durch neues Spielzeug oder ermunternde Worte. Für die Kinder ist die Aktivität aus eigener Initiative eine Quelle großer Befriedigung.

Bemerkenswert ist mittlerweile, wie konfliktlos die Kinder fast alle Dinge der täglichen Routine annehmen: Essgewohnheiten, Schlafrhythmus, Pflege, Kontrolle der Schließmuskel. Die regelmäßige Pflege ist niemals ein Grund für Konflikte zwischen Betreuerin und Kind, sondern stellt immer eine erfreuliche Kontaktgelegenheit dar.

Es sind die gemeinsamen Wünsche des Kindes und der Betreuerinnen, die Wichtigkeit des "Großwerdens" zu verinnerlichen. Nur in zwei Bereichen werden Grenzen gesetzt: in der emotionalen Forderung des Kindes an die Betreuerinnen und in der Aggressivität des Kindes gegenüber anderen.

Die Kinder in "Centar Duga" werden bewahrt vor dem dramatischen Los, sich schlecht und wertlos zu fühlen. Sie werden bewahrt vor dem unstillbaren Durst nach Liebe, die sie nie erleben und nirgends finden werden. Sie werden bewahrt vor Zerstörungswut, vor Zurückweisung und dem Gefühl immer und immer wieder verlassen zu werden. So weit es sich machen lässt, wird bei Verlegung in andere sozialpädagogische Einrichtungen oder in Adoptionsfamilien ein für den Wechsel günstiges Klima geschaffen. Die Gespräche mit dem Sozialministerium und den Sozialzentren zeige da mittlerweile Wirkung. Unsere Kinder haben ein Gefühl für Existenz, sie sind sich ihres Wertes bewusst und haben das Verlangen und die Möglichkeit zu handeln.

Es ist damit zu rechnen, dass schöne, aktive und hinlänglich disziplinierte Kinder sich von einer Adoptivfamilie oder einer künftigen Pflegemutter leichter lieben lassen. Vielleicht können sie in einer Adoptivfamilie die Erfahrungen nachholen, die ihnen bis zu diesem Wechsel im Leben gefehlt haben.

Das wünscht Arno Heider

Die Zusammenfassung des Pflegekonzepts ist im Wesentlichen dem Buch von Myriam David, Genevieve Appel "Loczy" entnommen (Cramer-Klett&Zeitler, 34 Mark).

PS: Den Hinweis auf das Pflegekonzept "Loczy" verdanken wir der Diplompsychologin Dorothea Weinberg aus Nürnberg. Dorothea Weinberg arbeitet für "Centar Duga" und den Verein "Schutzengel gesucht" ehrenamtlich und begutachtet unsere Kinder alle Jahre mindestens ein Mal. Durch ihre Vermittlung fanden Fortbildungsveranstaltungen für unsere Betreuerinnen in "Loczy" in Budapest statt. Ihr und dem Verein "Hilfe direkt" aus Nürnberg ist es auch zu verdanken, dass unsere Betreuerinnen von einer Psychologin aus Zagreb (Kroatien) betreut werden, um sich in Themen wie Konfliktbewältigung/Konfliktfähigkeit zu üben. Vielen Dank für die Unterstützung.