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Nähe und Distanz

Als ich im November ´99 mit Steuers nach Kulen Vakuf kam, das Haus sah, das noch nach frischer Farbe roch, Admir und Sabina kennenlernte und den Einzug der ersten Kinder mitbekam, war mir klar, dass dies eine Erfahrung mit Folgen sein würde. Was ich nicht wusste und mir nicht hätte träumen lassen, war die Entwicklung, die das Centar Duga nehmen würde. Während meiner zweiten Fahrt nach Bosnien, die ich zusammen mit der Psychologin Dorothea Weinberg unternahm, habe ich begriffen, dass es sich hier nicht um eine Arche handelt, in der die Kinder bloß untergebracht sind wie einst beim alten Noah, sondern um eine beschützende Einrichtung, die pädagogisch und zum Teil auch therapeutisch fundierte Arbeit leistet. Und dass dies auch bitter nötig ist angesichts der vielfältigen individuellen Probleme der Kinder einerseits und der sozialen Situation in Bosnien andererseits.

Wenn ich die Zahlen, die Admir beim Frühstück nach unserer morgendlichen Ankunft in Bihac aus dem Ärmel schüttelte, richtig mitbekommen habe, wurden mittlerweile 57 Kinder im Heim betreut, 39 von ihnen haben es wieder verlassen, davon 6 in andere Institutionen wie zum Beispiel Emir, der in einer sozialtherapeutischen Einrichtung lebt. 8 Kinder wurden in eine Pflege- oder Adoptivfamilie vermittelt und der Rest kam wieder in die eigene Großfamilie zurück. Letzteres ist oft mit Problemen verbunden, da für manche Kinder damit ein häufig sehr abruptes hin und her verbunden ist. Inzwischen müssen Eltern, die ein Kind aufnehmen wollen, sechs mal zu Besuch kommen und das Kind einmal für drei Tage mit zu sich nehmen, um den Wechsel des Lebensmittelpunktes möglichst fließend zu gestalten und zu vermeiden, dass ein Kind nach kurzer Zeit wieder zurückgegeben wird.

Das Haus ist gegenüber dem Zustand vor zwei Jahren nicht wiederzuerkennen. Es ist von einer Wiese umgeben, darum herum ein Zaun, neben dem Haus ein Spielplatz, auch dieser noch einmal eingezäunt. Ein ganzer Fuhrpark von Kinderwägen und Bobbycars wartet aufgereiht auf die Kinder. Derzeit leben hier achtzehn kleine Menschen. Wer laufen kann, kommt angerannt, als Admir und die drei Fremden (Benita, eine Studentin, die fünf Jahre in Schwabach gelebt hat, begleitet uns um für Dorothea zu übersetzen) durch die Gartentür treten. Motorische Störungen sind bei vielen schon auf den ersten Blick nicht zu übersehen.

Ich erkenne Azra wieder - aber nur, weil ich neuere Bilder von ihr gesehen habe. Auf den ersten Blick ist sie ein freundliches, sehr bewegungsfreudiges Mädchen, ein Wildfang, der viel Aufmerksamkeit verlangt. Sie begrüßt mich Fremden mit einem netten Tätscheln und neugierigem Blick, geht dann weiter. Später der Hinweis von Admir, man wolle nicht, dass die Fremden, die kommen, zu intensiven Kontakt zu den Kindern aufnehmen, da sie durch das ständige Kennenlernen und auf Nimmerwiedersehen Verschwinden in emotionale Verwirrung geraten. So erlege ich mir Zurückhaltung auf. Die Bedeutung der Wahrung von Distanz zu den einen (den Fremden) und Nähe zu den anderen (den Erzieherinnen als wichtigste Bezugspersonen) wird sich später noch deutlicher zeigen.

In der folgenden Teambesprechung mit Dorothea und allen Erzieherinnen, die gerade im Haus sind, erstaunt mich einerseits die Genauigkeit, mit der die Frauen  die Kinder beobachten und andererseits ihr Bestreben, aus diesen Beobachtungen Konsequenzen für das eigene Verhalten abzuleiten. Deutlich wird auch die Autorität, die Dorothea bei ihnen genießt. Ihre Erklärungen und Handlungsempfehlungen haben augenscheinlich großes Gewicht, die Zurückhaltung der Frauen scheint jedoch bei diesem ersten Treffen groß.

Später sitze ich hoch oben über Kulen Vakuf . Unter mir kurvt der Fluss auf den Ort zu, verbreitert sich mächtig, bevor er Einzug hält unter der Brücke mit ihrem frisch gestrichenen himmelblauen Geländer. Die zwei Gostionas auf der dem Ortskern zugewandten Uferseite sind inzwischen wieder eröffnet worden, links sitzen die Alten, rechts die Jungen - Müßiggänger, die hier den heißen Nachmittag verbringen. Das Centar Duga ist der größte Arbeitgeber am Ort. Keine der dreizehn halbtags beschäftigten Frauen hat in den zwei Jahren gekündigt, keiner musste die Kündigung nahegelegt werden. Vielleicht liegt das an den Weiterbildungsmaßnahmen, an den Hospitationen in einer Modelleinrichtung in Ungarn, am gemeinsam erarbeiteten pädagogischen Konzept, vielleicht am guten Klima im Team, vielleicht auch an der Sorgfalt gegenüber den Mitarbeiterinnen, die sich zum Beispiel in der Ferienwohnung an der Adria ausdrückt, die jede von ihnen für eine Woche im Jahr mit ihrer Familie nutzen kann.

Keine Minenbänder mehr, die die Straßen oder den Weg hinauf zur Festung säumen. Viele unverputzte Häuser, dazwischen starren halbzerfallene Ruinen, die immer noch einen Rest von Nachkriegsstimmung verbreiten. Auf den Straßen zeigen sich Menschen - anders als vor zwei Jahren, damals wirkte das Dorf wie ausgestorben. Auffallend viele Kinder und Jugendliche.

Spielende Kinder im Garten. Als wäre das ganz normal. Auch die Kleinen aus der ersten Gruppe werden nach draußen gebracht, sitzen in Laufställen oder im Buggy, beobachten die Nächstgrößeren aus Gruppe zwei, die sich auf dem Spielplatz vergnügen. Doch es ist ein fast stummes Vergnügen. Kaum eines der Kinder, die zwischen zwei und drei Jahren alt sind, spricht. Kein Lachen, nur selten ein Protestschrei, ab und zu ein kleines Weinen von Semra, um die sich gerade Dorothea zusammen mit der Erzieherin Sandra bemüht. Sobald Semra ins Freie kommt, beginnt sie zu weinen, lässt sich nicht beruhigen, hängt an Sandra wie eine Klette. Später fotografiere ich eine Gruppe von Kindern, die mit zwei Erzieherinnen auf einer Decke sitzen und Süßigkeiten knabbern. Mitten dabei die kleine Semra. Alle hochkonzentriert und hochzufrieden. Schließlich kann Sandra sogar weggehen, Semra bleibt ruhig bei den anderen Kindern. Was so ein bisschen Knabberzeug und viel Zuwendung doch erreichen können! Die Aufmerksamkeit der Kinder wird jetzt von dem kleinen Nachbarshund gefesselt, der an den Zaun kommt. Große Aufregung, dieses für Kleine so typische Gemisch aus Freude,  Neugier und Angst - doch nach wie vor bleiben die Kinder stumm. Plötzlich steht Najdin vor mir, stumm, hebt die Arme, schaut mich an. Nach einer Weile, in der er sich nicht von der Stelle rührt und keinen Pieps macht, setze ich ihn auf mein Knie. Er spielt mit der Kamera, nimmt meine Hand, führt sie an seinen Mund, macht hohe Piepstöne daran, speichelt sie ein. Dann rutscht er von meinem Bein, geht ein paar Schritte weg, kommt wieder, hebt die Arme... Das wiederholt sich etwa eine Stunde lang. Mittenzwei, du solltest doch Distanz wahren! Also setze ich ihn in den Sand, stehe auf und gehe ein Stück weiter zu Semra, die mit Benita spielt, lege mich ins Gras um sie zu fotografieren. Plötzlich kommt Najdin mit hängenden Armen um die Ecke gewackelt, klettert eine Weile tollpatschig auf mir herum und legt sich schließlich, halb auf meinem Bauch, zur Ruhe. Dabei habe ich nicht den Eindruck, er hätte mich besonders in sein Herz geschlossen. Sein Gesichtsausdruck bleibt derselbe: fast unbeteiligt. So bringt er mir einen Begriff davon bei, was Admir gemeint hat mit dem Erlernen von Nähe und Distanz, das für manche Kinder so schwierig und so wichtig sei, weil sie intensive Zuwendung und enge Beziehungen entbehren mussten. Vier Wochen war Najdin vor kurzem mutterseelenalleine im Krankenhaus gelegen um wegen früherer epileptischer Anfälle untersucht zu werden. Im Arztbericht wird die mangelnde Kooperationsbereitschaft des Zweijährigen beklagt. Dummheit oder Überlastung? Oder Gleichgültigkeit? Für ein Kind mit einer Geschichte wie Najdin jedenfalls katastrophal.

Am nächsten Vormittag besuche ich mit Sabina drei Familien. Nur eine von ihnen, eine Witwe mit vier Kindern, bekommt noch Unterstützung durch das Familienprogramm, das inzwischen - stark reduziert von 18 auf sechs betreute Familien - von der Eichstätter KKNH-Gruppe finanziert wird. Die beiden anderen Familien hatte ich bereits vor zwei Jahren mit Admir besucht.

Die erste, in Bosanska Krupa, zu der man über eine sehr baufällige Holzbohlenbrücke kommt , besteht aus sechs Kindern, dem durch eine Kriegsverletzung fast erblindeten Vater und der Mutter. Es geht so. Durch die Kriegskindernothilfe bekamen sie inzwischen 12 Hühner, ein trächtiges Schaf und eine trächtige Kuh, die mittlerweile zusammen mit ihrem Kalb für 1500 Mark verkauft wurde. So sagt der Vater. Auch bekamen sie vom Staat einen Bauplatz, der für 900 KM planiert worden ist. Doch sie fangen nicht an zu bauen. Das Geld reiche gerade mal für das Fundament, man brauche noch einmal so viel um überhaupt anfangen zu können, außerdem gebe die neue Kuh keine Milch und er brauche auch Heu für sie, das koste Geld. Sabina ist unzufrieden, befürchtet, dass der Erlös für die Kuh und das Kalb bereits in andere Kanäle geflossen sein könnte.

Wir fahren weiter zu der Witwe, die mit ihren Kindern hinter Bosanska Krupa in einer kleinen, sehr alten und sehr baufälligen Hütte mitten im Wald lebt. Ein holpriger, ausgespülter Feldweg führt dorthin, nur bis zur Hälfte befahrbar, den letzten Kilometer müssen wir zu Fuß gehen. Eine Lichtung öffnet sich, auf der sich neben einem neueren unverputzten Haus das windschiefe Hexenhäuschen der Witwe seinem endgültigen Verfall entgegen neigt. In dem Neubau wohnt die Schwiegermutter, ganz alleine. Die beiden Frauen kommen nicht miteinander zurecht. So bleibt die Witwe mit ihren vier Kindern in dieser Bruchbude, durch deren Dach es hineinregnet. Im Sommer sind die zwei kleinen, fast fensterlosen Räume völlig überhitzt von dem Holzherd, auf dem gekocht wird, in den strengen Wintern dort oben pfeift der Wind durch zentimeterdicke Ritzen in den Wänden. Seit ein Mann, der in der Nähe wohnt, ab und zu kommt um ihr zu helfen, muss sie sich wüste Beschimpfungen der Alten anhören. Sie solle verschwinden und ihre Kinder gleich mitnehmen. Der eigentliche Grund der Misere liegt in ihrer rechtlosen Situation in der Großfamilie als alleinstehende Frau. Zwei Männer sind ihr schon weggestorben, der eine vor dem Krieg, der andere danach, so dass sie weder irgendeine staatliche Unterstützung bekommt noch - wie die Kriegswitwen - ein Recht auf eine Arbeitsstelle hat. Sie besitzt eine Kuh, ein paar Hühner und einen Gemüsegarten. Zusammen mit Sabinas monatlicher Lieferung, die sie seit zwei Jahren bekommt, genug zum Überleben. Mehr nicht. Vier Liter Öl, ein halber Zentner Mehl, Salz, Zucker, ein wenig Dosenwurst, Nudeln, Gewürze, Waschpulver, Seife und fünf Tafeln Schokolade.

Vor dem Haus trocknen Maiskolben in der Sonne. Die zahnlose Alte kommt dazu, erzählt mir wild gestikulierend von den Gemeinheiten des Lebens im Allgemeinen und ihres Sohnes im Speziellen, dem das Haus gehört, in dem sie wohnt. Für wen sie mich wohl halten mag? Ich nicke einfach und denke darüber nach, dass Armut zahnlos macht - auch die gerade erst vierunddreißigjährige Witwe hat nur noch einige wenige Ruinen im Mund.

Schließlich dann die Familie, die ich vor zwei Jahren als die Bahndammfamilie kennen gelernt habe und die gar nicht mehr in ihrem Verhau an den Gleisen wohnt. Damals hatte Admir auf dem Rückweg, während ich über die unsägliche Verwahrlosung  dieser Familie sprachlos auf dem Beifahrersitz grübelte, über sich selbst geschimpft: jedes Mal hoffe er auf der Hinfahrt, irgendetwas habe sich zum Besseren verändert, es sei aufgeräumt, die Kleinen hätten etwas an, irgendetwas eben. Und wenn er dann wieder zurückfahre, müsse er sich jedes Mal einen Idioten nennen. Also hoffnungslos? Ich bin sehr neugierig. Für rund fünfunddreißigtausend Mark hat die KKNH im Dorf der Eltern des Mannes ein Häuschen gebaut und eingerichtet. Es ist nicht groß, nur zwei Wohnräume und ein Speicher im Dach, aber es hat Türen und Fenster, ist aus massivem Stein, besitzt einen Herd und die nötigsten Möbel. Dazu ein bisschen Kleinvieh. Ein Anfang. Dazu in der Nähe der Großfamilie. Dennoch ist es nichts Gutes, was ich auf der Fahrt heute hierher höre. Und was ich schließlich sehe, ist ernüchternd. Nichts hat sich wirklich verändert. Als wir kommen, hockt die Frau vor dem Haus, um sie herum drei ihrer sieben Kinder, das Jüngste, etwa eineinhalb Jahre alt, sitzt nackt im Dreck, dessen Farbe es längst angenommen hat. Über dieser graubraunen Schicht, die die Hautfarbe nicht mehr erkennen lässt, ist es überzogen von schwarzem, verkrustetem Schlamm, Schmadder, Mist - was auch immer. Sitzt dort und kratzt sich zwischen den Beinen. Sabina marschiert ins Haus. Keines der Einrichtungsstücke bis auf den Herd, auf dem sich ein schimmelndes Chaos aus Geschirr, Knochen und Undefinierbarem stapelt, ist mehr als solches erkennbar. Ein Stuhl liegt mitten im Raum, streckt die ihm verbliebenen drei Beine wie ein Kadaver in die Luft, darum herum Trümmer eines großen Rinderknochens auf dem Boden verteilt, zusammen mit einer Schicht aus Dreck, Essensresten, Geschirr, schmutziger Wäsche auf den Dielen, deren Holz sich nur noch erahnen lässt.

Sabine spricht ruhig, sehr ernst, wenige Worte. Die Frau nickt, murmelt vor sich hin, beginnt hektisch und planlos den Unrat von hier nach dort zu räumen. Der Raum ist schwarz von Fliegen. Der Geruch beginnt sich in meinem Magen auszubreiten und wieder nach oben zu drängen. Im zweiten Raum lagert auf dem Boden und auf einer Matratze eine große Menge schmutziger Kleidung. In einer kleinen Kammer stehen Töpfe mit einer dunkelgrauen Brühe, in der tote Fliegen schwimmen.

Über eine geländerlose Außentreppe, auf der die Kinder halsbrecherisch herumturnen, gelangt man unter das Dach. Hier lagern - immerhin sauber auf Tüchern ausgebreitet - ein paar Bohnen und Mais. Dahinter wieder große Haufen schmutziger Wäsche. Auch um das Haus herum liegen Kleidungsstücke verstreut, dazwischen übereinander geworfen verkrustetes Geschirr.

Das älteste Kind, vierzehn Jahre alt, ist behindert und lebt in Bosanska Krupa auf der Straße. Der Junge kommt nur noch sporadisch nach Hause und randaliert dann. Vor einiger Zeit trat er seinem  jüngsten Geschwisterchen so heftig auf den Kopf, dass dieses anschließend zwei Wochen lang im Krankenhaus lag.

Auf der Rückfahrt durch das idyllische Tal der Unna fragt Sabina: "Was sollen wir mit denen nur machen?". Wie soll ich das wissen. All die Maßnahmen, die uns in Deutschland leicht über die Lippen kämen, psychosoziale Betreuung, Familientherapie, klingen angesichts der finanziellen Situation in Bosnien eher zynisch, alles andere scheint mir an der totalen Orientierungslosigkeit und Apathie der beiden Eltern zu scheitern. Kein Kind geht zur Schule. Die Eltern sind Analphabeten, also werden es auch die Kinder sein. Die Familie ist bereits aus dem Unterstützungsprogramm der KKNH rausgeflogen. Zu groß war hier wohl die Enttäuschung, dass all der Einsatz, das Leben der Familie auf einen guten Weg zu bringen, so offensichtlich sinnlos war. Zum Abschied hatte Sabina gefragt: "Hast du Essen im Haus?" - "Nein." Und ein Schulterzucken.

Admir sagt später: "Wenn wir damals Azras Familie, die ähnlich gelebt hat, fallengelassen hätten, wäre Azra längst tot."

Er hat die Idee, die zwei jüngsten Kinder im Heim aufzunehmen und so die Familie für eine begrenzte Zeit zu entlasten. Doch die Frau sträubt sich, weinte, als er ihr den Vorschlag machte. Auch das Sozialamt hat Bedenken: Könnten die zwei nach dem geregelten Leben im Heim jemals wieder in dieser Familie existieren? Wie könnte es gelingen, in dieser Zeit die Eltern lebenstüchtiger zu machen? Sicher nur dann, wenn man es fertig bringt, ihren Tag zu strukturieren. Laut Sabina steht die Frau irgendwann auf, weiß nicht, welches Datum, welcher Tag, welche Uhrzeit, setzt sich hin, sitzt da, geht irgendwann wieder schlafen. Nur ein fester Plan mit Piktogrammen für drei Mahlzeiten und für diverse Aufgaben des täglichen Lebens zwischen diesen Mahlzeiten könnte hier helfen. Und wenn diese Piktogramme abgehakt und die Arbeiten wirklich erledigt sind, gibt es die Unterstützung für den nächsten Tag oder die nächste Woche. Das klingt hart, scheint mir aber besser, als sie ganz fallen zu lassen. Denn die Kinder zumindest können wirklich nichts für ihre Lebensumstände. Fraglich ist nur, wer diese tägliche Kontrolle und Betreuung leisten soll und ob die Frau aufgrund ihrer psychischen und intellektuellen Situation überhaupt in der Lage ist, Selbstständigkeit und Verantwortung zu erlernen.

Tief in Gedanken fahre ich von Bihac die halbe Stunde nach Kulen Vakuf, beobachte, fotografiere, schreibe, gehe schließlich mit Admir in einer der Gostionas an der Brücke ein Bier trinken. Der Wirt spricht Deutsch. Es gibt Preminger, das im Fluss gekühlt wird, und eine große Kanne bosnischen Kaffee. Wir erzählen einander, der Blick ist schön, ich sitze so, dass ich die Ruine am anderen Ufer nicht sehe.

Abends gehen wir mit Admir und Sabine  essen. Den Genuss des frischen Fisches stört ein wenig der Gedanke an die Bahngleisfamilie. Was werden die heute essen? Nur schwer lassen sich die Gedanken wieder zum Gespräch lenken. Beim anschließenden Abendspaziergang staunen Dorothea und ich über die unzähligen Restaurants, Bars und Cafés, über das bunte Treiben, die vielen jungen Leute auf der Straße. Eine fröhliche, sehr lebendige Atmosphäre mit überlauter Musik prägt die Innenstadt am Samstagabend und - wie Sabina sagt - an jedem Abend. Trotz der vielen Sorgen der Menschen hier, der Arbeitslosigkeit, des Wohnungsmangels, der Armut: die Menschen versuchen ihr Leben zu genießen so gut es geht.

Am Sonntag, nach einer langen Besprechung Dorotheas mit einigen Erzieherinnen über jedes einzelne Kind und einem sehr herzlichen Abschied, machen wir uns am frühen Nachmittag auf die Heimfahrt. Die dauert zehn Stunden. Länger nicht.

Bernd Mittenzwei, September 2001